Motto: Die "Ethik" ist keine Leidenschaft des Kopfes, sondern der Kopf der Leidenschaft." (frei nach Marx)
Warum liest man überhaupt Spinoza? Was verspricht sich da eine/r davon? Hier ein Dankesschreiben einer begeisterten Kundin:
"Die Philosophie hat mit zehn Jahre Psychoanalyse erspart", erklärt lachend Inès. Mit ihren 35 Jahren, groß und schlank, Mutter und Klavierlehrerin, wirkt Inès keinesfalls mitleiderregend. "Sie hätten mich vor drei Jahren sehen
sollen: innerlich gehemmt, nach außen unbeteiligt, im Grunde aber zum Bersten gespannt!" Oberflächlich betrachtet, ging alles gut. Sie hatte einen Ehemann,
ein Kind, einen Labrador. Aber es gab einen Haken: ihr Ehemann führte ein Doppelleben. Inès fand weder den Mut zur Trennung, noch zum Kämpfen. "Ich war paralysiert und das hat mich jeden Tag mehr und mehr zerstört." Des öfteren wird sie auf der Straße fast überfahren oder bricht sich auf der Treppe beinahe den Hals. "Ich war suizidgefährdet, ohne es zu wissen." Vielleicht ist es
dieser Umstand, sich in einer Sackgasse zu befinden, wo die Verzweiflung zum Auslöser wird - wie etwa der französische Philosoph Comte-Sponville meint. Sie, die kaum auf den Klassendurchschnitt bei ihrer Philosophiematura kam, verschlingt die von Comt-Sponville zitierten Autoren: Conche, Rosset, Deleuze, Cioran. Danach nimmt sie sich Nietzsche, Montaigne, Pascal vor. "Vor Spinoza musste ich passen. Trotzdem war es er, mit Hilfe von Deleuze, der mich gerettet hat. Ich habe mich in seiner Kritik der traurigen Leidenschaften wie in einem
Spiegel gesehen. Ich war nur noch Schuldgefühl, Ressentiment, während doch nur die Freude zählt." Und dann? "Eines Tages bin ich gegangen. Das war gar kein
großes Problem. Ich lese immer noch Philosophie, doch weniger als zuvor." Die Lehre aus der Geschichte? "Ich bin nur für das verantwortlich, was auch von mir abhängt, d.h. ich selbst und meine Tochter, solange sie klein ist. Es liegt an mir, meine Fähigkeit zur Freude zu fördern. Eines Tages werde ich die "Ethik" ganz lesen." Spinoza Superstar ...
(meine bescheidene, fehlerhafte Übersetzung, doch es muss genügen... Wer's auf Französisch nachlesen will:
http://www.nouvelobs.com/dossiers/p1986/a29054.html
Dossier aus Nouvel Obersvateur, Semaine du jeudi 28 novembre 2002 - n°1986)
Auch Deleuze meint ja: "Das Paradox Spinozas besteht ja auch darin, der philosophischste der Philosophen zu sein, der reinste gewissermaßen, aber gleichzeitig der, der sich am stärksten an Nicht-Philosophen wendet und das
meiste und nicht-philosophische Verständnis hervorruft. Daher ist genaugenommen jeder fähig Spinoza zu lesen, und große Emotionen aus dieser Lektüre zu ziehen oder seine Wahrnehmung vollkommen zu erneuern, auch wenn er die spinozistischen Begriffe nicht so gut versteht."
(Unterhandlungen, 239)
Die "Ethik" lesen - eine Therapie?
Warum nicht, wenn's hilft? Zugleich entwindet sich diese Praxis des Lesens auch dem Ressentiment, das im Boom der verschiedensten Schnellsieder-Psycho-
Scharlatanerien steckt: Es muss schnell gehen, ich möchte symptomfrei sein, wenn's auch noch irgendwie "in" ist, noch besser.
Andererseits scheint mir die "Ethik" aber auch umfassender als die Psychoanalyse zu sein. Nicht nur Trauerarbeit und Arbeit am Trauma, am Symptom... Vielmehr wird eine solche Arbeit bei Spinoza in den offenen Kontext einer Arbeit am gesellschaftlich Imaginären gestellt. Das Begehren beruht bei ihm nicht auf einem Mangel (Lacan), sondern ist Produktion, freie Tätigkeit im Verein mit möglichst vielen anderen "Freigeistern".
Ja, es gibt eine therapeutische Dimension in der "Ethik" und Spinozas philosophische, politisch-theoretische Tätigkeit hatte sicherlich einen solchen Effekt für ihn. Und genau die Suche nach solchen Heilmitteln stellt den Anfangsimpuls für sein Philosophieren dar:
"Nachdem die Erfahrung mich gelehrt hat, daß alles, was im täglichen Leben sich gewöhnlich ereignet, nichtig und wertlos ist ..."
(Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes)
Klingt nach großer Enttäuschung, der Arme. Spinoza versteckt sich nicht, sondern spricht direkt zu uns:
"Denn ich sah, daß ich mich in höchster Gefahr befand und deshalb gezwungen sei, ein Heilmittel, mag es auch unsicher sein, mit aller Kraft zu suchen, ganz so wie ein Todkranker, der seinen sicheren Tod voraussieht, wenn nicht ein Heilmittel angewendet wird, nach diesem Mittel, obschon es unsicher ist, mit aller Kraft zu suchen gezwungen ist ..." (ebd.)
Natürlich lässt sich die "Ethik" nicht auf Therapie reduzieren. Aber indem man sie liest, kann sie das für manche auch sein. Wichtig aber ist, dass sie eine Sorge um sich vorschlägt, die anschlussfähig bleibt an umfassendere
Befreiungsprojekte gesellschaftlicher, politischer Natur, ohne das eine durch das andere zu ersetzen.
Bereits die ersten Schritte, die man mit der "Ethik" macht, befreien einen. Und von da an hört es nicht mehr auf.
Die "Ethik" ist eine "Verdichtung", eine "logische Formalisierung der dynamischen Struktur" befreiender Handlungsfähigkeit (André Tosel). Dabei laufen die Dimensionen des Befreiungsprozesses quer zu allen Maßstäben: individuell/ kollektiv/ gesellschaftlich, mental/ körperlich, kurz-/ langfristig, etc.
Sich trotz Berücksichtigung all dieser Dimensionen nicht in dilemmatorische Zielkonflikte und Blockierungen (Vernunft/Gefühl; nicht mit und nicht ohne jemanden leben können; Utopie/schnöde Wirklichkeit; "ich will, aber ich trau
mich nicht"; "ich könnte, aber ich will nicht" etc.) zu verstricken, dazu kann die "Ethik" benutzt werden.
Warum liest man überhaupt Spinoza? Was verspricht sich da eine/r davon? Hier ein Dankesschreiben einer begeisterten Kundin:
"Die Philosophie hat mit zehn Jahre Psychoanalyse erspart", erklärt lachend Inès. Mit ihren 35 Jahren, groß und schlank, Mutter und Klavierlehrerin, wirkt Inès keinesfalls mitleiderregend. "Sie hätten mich vor drei Jahren sehen
sollen: innerlich gehemmt, nach außen unbeteiligt, im Grunde aber zum Bersten gespannt!" Oberflächlich betrachtet, ging alles gut. Sie hatte einen Ehemann,
ein Kind, einen Labrador. Aber es gab einen Haken: ihr Ehemann führte ein Doppelleben. Inès fand weder den Mut zur Trennung, noch zum Kämpfen. "Ich war paralysiert und das hat mich jeden Tag mehr und mehr zerstört." Des öfteren wird sie auf der Straße fast überfahren oder bricht sich auf der Treppe beinahe den Hals. "Ich war suizidgefährdet, ohne es zu wissen." Vielleicht ist es
dieser Umstand, sich in einer Sackgasse zu befinden, wo die Verzweiflung zum Auslöser wird - wie etwa der französische Philosoph Comte-Sponville meint. Sie, die kaum auf den Klassendurchschnitt bei ihrer Philosophiematura kam, verschlingt die von Comt-Sponville zitierten Autoren: Conche, Rosset, Deleuze, Cioran. Danach nimmt sie sich Nietzsche, Montaigne, Pascal vor. "Vor Spinoza musste ich passen. Trotzdem war es er, mit Hilfe von Deleuze, der mich gerettet hat. Ich habe mich in seiner Kritik der traurigen Leidenschaften wie in einem
Spiegel gesehen. Ich war nur noch Schuldgefühl, Ressentiment, während doch nur die Freude zählt." Und dann? "Eines Tages bin ich gegangen. Das war gar kein
großes Problem. Ich lese immer noch Philosophie, doch weniger als zuvor." Die Lehre aus der Geschichte? "Ich bin nur für das verantwortlich, was auch von mir abhängt, d.h. ich selbst und meine Tochter, solange sie klein ist. Es liegt an mir, meine Fähigkeit zur Freude zu fördern. Eines Tages werde ich die "Ethik" ganz lesen." Spinoza Superstar ...
(meine bescheidene, fehlerhafte Übersetzung, doch es muss genügen... Wer's auf Französisch nachlesen will:
http://www.nouvelobs.com/dossiers/p1986/a29054.html
Dossier aus Nouvel Obersvateur, Semaine du jeudi 28 novembre 2002 - n°1986)
Auch Deleuze meint ja: "Das Paradox Spinozas besteht ja auch darin, der philosophischste der Philosophen zu sein, der reinste gewissermaßen, aber gleichzeitig der, der sich am stärksten an Nicht-Philosophen wendet und das
meiste und nicht-philosophische Verständnis hervorruft. Daher ist genaugenommen jeder fähig Spinoza zu lesen, und große Emotionen aus dieser Lektüre zu ziehen oder seine Wahrnehmung vollkommen zu erneuern, auch wenn er die spinozistischen Begriffe nicht so gut versteht."
(Unterhandlungen, 239)
Die "Ethik" lesen - eine Therapie?
Warum nicht, wenn's hilft? Zugleich entwindet sich diese Praxis des Lesens auch dem Ressentiment, das im Boom der verschiedensten Schnellsieder-Psycho-
Scharlatanerien steckt: Es muss schnell gehen, ich möchte symptomfrei sein, wenn's auch noch irgendwie "in" ist, noch besser.
Andererseits scheint mir die "Ethik" aber auch umfassender als die Psychoanalyse zu sein. Nicht nur Trauerarbeit und Arbeit am Trauma, am Symptom... Vielmehr wird eine solche Arbeit bei Spinoza in den offenen Kontext einer Arbeit am gesellschaftlich Imaginären gestellt. Das Begehren beruht bei ihm nicht auf einem Mangel (Lacan), sondern ist Produktion, freie Tätigkeit im Verein mit möglichst vielen anderen "Freigeistern".
Ja, es gibt eine therapeutische Dimension in der "Ethik" und Spinozas philosophische, politisch-theoretische Tätigkeit hatte sicherlich einen solchen Effekt für ihn. Und genau die Suche nach solchen Heilmitteln stellt den Anfangsimpuls für sein Philosophieren dar:
"Nachdem die Erfahrung mich gelehrt hat, daß alles, was im täglichen Leben sich gewöhnlich ereignet, nichtig und wertlos ist ..."
(Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes)
Klingt nach großer Enttäuschung, der Arme. Spinoza versteckt sich nicht, sondern spricht direkt zu uns:
"Denn ich sah, daß ich mich in höchster Gefahr befand und deshalb gezwungen sei, ein Heilmittel, mag es auch unsicher sein, mit aller Kraft zu suchen, ganz so wie ein Todkranker, der seinen sicheren Tod voraussieht, wenn nicht ein Heilmittel angewendet wird, nach diesem Mittel, obschon es unsicher ist, mit aller Kraft zu suchen gezwungen ist ..." (ebd.)
Natürlich lässt sich die "Ethik" nicht auf Therapie reduzieren. Aber indem man sie liest, kann sie das für manche auch sein. Wichtig aber ist, dass sie eine Sorge um sich vorschlägt, die anschlussfähig bleibt an umfassendere
Befreiungsprojekte gesellschaftlicher, politischer Natur, ohne das eine durch das andere zu ersetzen.
Bereits die ersten Schritte, die man mit der "Ethik" macht, befreien einen. Und von da an hört es nicht mehr auf.
Die "Ethik" ist eine "Verdichtung", eine "logische Formalisierung der dynamischen Struktur" befreiender Handlungsfähigkeit (André Tosel). Dabei laufen die Dimensionen des Befreiungsprozesses quer zu allen Maßstäben: individuell/ kollektiv/ gesellschaftlich, mental/ körperlich, kurz-/ langfristig, etc.
Sich trotz Berücksichtigung all dieser Dimensionen nicht in dilemmatorische Zielkonflikte und Blockierungen (Vernunft/Gefühl; nicht mit und nicht ohne jemanden leben können; Utopie/schnöde Wirklichkeit; "ich will, aber ich trau
mich nicht"; "ich könnte, aber ich will nicht" etc.) zu verstricken, dazu kann die "Ethik" benutzt werden.
hans68 - am Sonntag, 11. Juli 2004, 12:14